Erzähllust

Offene Erzählbühne vs. poetry slam

Gepostet am 5 Nov 2015

Offene Erzählbühne“ – Die Sehnsucht nach dem kreativen Dialog

Wir alle kennen die traditionelle Autorenlesung. Literatur wird als „Teil der Hochkultur“ gepflegt, der vorgelesene Text eines einzelnen Autors steht im Zentrum. Das exklusive Publikum lauscht andächtig, stellt eventuell einige Fragen; es gibt jedoch keinen Dialog, an dem sich die Zuhörenden kreativ beteiligen könnten. Von daher scheint es nicht überraschend, dass wir gegenwärtig sowohl nach neuen Geschichten wie auch nach originellen Formen des Erzählens und Zuhörens suchen; in der digitalisierten Welt wächst die Sehnsucht der Menschen nach dem lebendigen analogen Austausch. Wie aber unterscheiden sich dabei die Formate des Poetry Slam und der Offenen Erzählbühne?

Ein Poetry Slam (Wikipedia: Dichterwettstreit oder Dichterschlacht) ist im Unterschied zur Autorenlesung ein organisierter Wettbewerb zwischen mehreren Vortragenden, bei dem selbstverfasste Texte innerhalb einer bestimmten Zeit einem Publikum präsentiert werden. Die Beiträge sollen bewusst durch die Selbstinszenierung des Vortragenden ergänzt werden. Der Moderator spielt dabei eine große Rolle. Einen Austausch zwischen den Akteuren gibt es jedoch nicht. Die Zuhörer küren anschließend den Sieger. Es fällt auf, dass durch dieses Format besonders die jungen Generationen in großer Zahl erreicht werden. Kritiker begründen dies damit, dass das Format „…Poetry Slam auf die Konsumgewohnheiten des Publikums zugeschnitten sei und außergewöhnlich gut in den Alltag einer vom Wettbewerb, den Massenmedien und ihren Sendeformaten beherrschten Welt passt“ (Reinhold Schulze-Tammena, „Slam Poetry, Sprechgedichte zum Performen“). Andererseits müsse man anerkennen, dass durch dieses Format „…ein Publikum wiedergewonnen wird, das man für den Konsum von Literatur längst verloren geglaubt hat.“ (Stephan Porombka, „Slam, Pop und Posse, Literatur in der Eventkultur“).

Mit der Offenen Erzählbühne hat sich in den letzten Jahren parallel zur traditionellen Autorenlesung und zum Poetry Slam eine neue Art der Publikumsveranstaltung entwickelt. Hier wird die Bühne auch für alle Erzählfreudigen geöffnet, die sie mutig betreten wollen. Im Unterschied zu den anderen Formaten können Menschen aus dem Publikum spontan Märchen, Mythen, Erlebtes oder Erfundenes frei vortragen. In den Offenen Erzählbühnen Hannover und Münster gibt es beide Elemente, sowohl spontane Beiträge aus dem Publikum als auch Geschichten eines geladenen Erzählkünstlers zu einem bestimmten Thema. Dabei steht das neugierige Zuhören und das freie Erzählen im Zentrum, was offensichtlich bei allen Akteuren wachsenden Zuspruch findet. Für die Offene Erzählbühne zeichnet sich sogar die Vision zu einem weiterer Entwicklungsschritt ab: Der Dialog zwischen den Akteuren und dem Publikum. Diese Interaktion kann zur gegenseitigen Inspiration, zur Integration der Beiträge oder gar zur Schaffung neuer Geschichten führen; erste Ansätze dazu gibt es unter dem Stichwort „Live Poetry“. Von dort scheint auch der nächste Schritt zum „Improvisationstheater“ nicht sehr weit.

Die Offene Erzählbühne hat also eine aufregende Zukunft! Vielleicht ist zur weiteren Steigerung ihrer Attraktivität aber doch das Zugeständnis an unsere sportliche Wettbewerbskultur nötig: Lasst doch das Publikum wie beim Poetry Slam über die kreativsten Beiträge abstimmen!

Max von Collande